Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich versuche, Sie nicht allzu lange aufzuhalten – ich habe eh nicht so viel zu sagen:
anders als immer
Ein Mann hatte die Dienste einer sog. Liebesdienerin in Anspruch genommen und, obwohl er ihr einen beträchtlichen Geldbetrag bezahlt hatte, sich sehr bemüht, so wenigstens versicherte er, dieser Frau Lust zukommen zu lassen. Beim Abschied fragte er, wie es für sie gewesen sei – und sie antwortete anders als immer. Etliche Sitzungen, für die er auch einen nicht unbeträchtlichen, wenn auch geringeren Geldbetrag bezahlt hatte, beschäftigte ihn diese Antwort. Die sonderbare Formulierung befriedigte ihn keineswegs, sie beunruhigte, machte ihn gar ärgerlich, weil, so beklagte er, dies gar keine richtige Antwort sei, darum auch bleibe sie so in ihm hängen. Doch weil diese Antwort in ihrer Mehrdeutigkeit nicht zu beruhigen vermochte, löste sie einen Fluss von Unsicherheiten und Gedanken aus – was er hingegen gesucht hatte, war eine Eindeutigkeit und keine weiteren Zweifel. Ich habe diese unbestimmte Formulierung in dieser Anekdote als Ausgangspunkt gewählt, weil sie eine Produktion von Gedanken und Geschichten in Gang gesetzt hat. Sie hat mir gefallen, weil ihre Art einen Teil meines Lebens bestimmt, den der täglichen Arbeit, und gleichermassen steht sie in einem Gegensatz zu dem, was mir entgegenkommt aus den gesellschaftlichen Gepflogenheiten, der Politik, insbesonders auch der Gesundheitspolitik, der sich auch Analytiker nicht (ganz) entziehen können. Letzteres verstehe ich durchaus auch in dem Sinne, als ich eben auch vermuten muss, dass mir die Fragen unliebsam, klare Antworten hingegen willkommen sind.
psychoanalytisches Seminar
Noch sehr gut kann ich mich erinnern, wie ich einst zum ersten Mal die Treppe hinauf stieg zum Sitzungszimmer des Psychoanalytischen Seminars, mein Wissen zu vermehren und wo in der Folge versucht wurde, mich zu einem Psychoanalytiker zu machen. Worüber damals gesprochen wurde, das weiss ich nicht mehr – vermutlich habe ich's damals auch gar nicht begriffen. – Aber tief beeindruckt war ich davon, wie Fragen gestellt wurden: so klug wurde gefragt, und jede Frage legte beredt Zeugnis ab vom profunden Wissen des Fragestellers – und ich entsinne mich noch heute an den einen Teilnehmer, der sich darin besonders hervortat. Meist habe ich dann vor staunender Ehrfurcht und dem Gefühl des Ungenügens die Fragen verpasst.
Heute – die Schritte sind seit der Zeit spürbar kürzer geworden – bin ich in einer ähnlichen Situation: Sie hier sind so viele – und ich kann Ihnen nichts erzählen, was Sie nicht schon längst wissen. Also will ich nun wenigstens versuchen, die verpassten Fragen, oder zumindest einige davon, wieder zu finden – auch, indem ich zu den Antworten die zugehörigen Geschichten suche.
Dass Antworten die Fragen vertreiben, ja, vielleicht sogar dazu da sind, die Fragen oder die Geschichten, auch die, die sich aus den Fragen entwickeln könnten, vergessen machen, ist vielleicht Programm, das gelernt werden soll. Und wie so oft, wenn etwas gelernt werden soll, gibt’s Gratifikationen, seien dies Akzeptanz, Belobigung – oder eine schulische Note, wie ich im folgenden Beispiel zeigen möchte:
Mathematikaufgabe
Die Mathematiklehrer haben sich was besonderes ausgedacht, wie sie den Schülern vermitteln können, wie Mathe eine nützliche und im Alltag brauchbare Disziplin sein könnte. Hören Sie ein solches Beispiel:
Ein Weinbauer berechnet für einen Abhang in Sonnenlage mit 434 m2 rund 2604 Weinstöcke. Sein Nachbar besitzt 213 m2, will aber noch 44 Weinstöcke auf dem Land seiner 80jährigen Grossmutter pflanzen. Wie viele Weinstöcke muss der 45jährige Nachbar kaufen?
Diese Art Mathematikaufgaben nennt sich in der Schweiz Geschichtchenrechnungen – Rechenaufgaben, die in eine Geschichte verpackt sind. Um diese lösen zu können, muss der Schüler das Wesentliche herausziehen, Unwichtiges ausser Acht lassen – v.a. aber wohl muss er wissen, was der Lehrer wissen möchte, nämlich was der schon weiss und das ist dann die richtige Antwort – Sie brauchen nicht zu rechnen, ich habe es für Sie schon getan –, sie ist 1322. Der Schüler erfährt dabei aber auch, dass mit der Antwort, v.a. wenn sie noch ‘richtig’ ist, ein grosser Teil der Geschichte verloren geht, und damit viele interessante Dinge in ihr, so zum Beispiel: – die Aussagen, dass der Weinbauer am Südhang pflanzt, lässt doch denken, dass wohl auch am Nordhang Wein angepflanzt wird, sonst wäre der Südhang wohl nicht erwähnt, und so tauchte die weitere Frage auf, was die zu erwartenden Qualitäts- und Geschmacksunterschiede denn sein könnten, – oder dass die Altersdifferenz des Nachbarn zu seiner Grossmutter lediglich 35 Jahre beträgt, was eine zwar mögliche, dennoch eher ungewöhnlich rasche Generationenfolge ist, mit der Frage nun, ob das an der Sonnenlage oder am Wein liegen möge. Da gäbe es dann viele weitere Geschichten zu erzählen.
Theoriediskussion
Lassen Sie aber mich wieder zur Analyse und zu den Analytikern zurückkommen. Und ich denke, dass diese Gegensätzlichkeiten auch bei ihnen, bei uns, sich zeigen. Ich stelle mir eben vor, dass Sie sich, wie ich auch, sich täglich und stundenlang mit Fragen beschäftigen – oder besser gesagt: dass die Fragen Sie beschäftigen, all diese Ungewissheiten und nicht verstandenen Geschichten Ihre Ohren belagern und das Gehirn überfluten, dass Sie täglich auf der Seite der Fragen sind, gar eher diese Sie haben – und meist keine Antwort parat, diesen Ansturm zu parieren.
Und dann kommen wir zusammen und ich staune wieder darob, wie viel Zeit wir darauf verwenden, Wissen und Antworten auszutauschen, und sonstige Klugheiten und Theoriediskussionen führen – jedoch eine unserer Gemeinsamkeiten ist doch, dass wir hinter der Couch hervorkommen, wo wir unsicher sind und meist falsche Deutungen abgeben, bei mir ist’s wenigstens so.
Was dabei wieder auf der Strecke bleibt sind (zu) oft die Fragen und die daraus entstehenden Geschichten – die schaffen sich dann allenfalls Platz im kleinen Kreis am späteren Abend.
Nicht dass ich was gegen Wissen oder Theorie hätte, beileibe nicht (– doch warum muss ich dies immer wieder betonen?). Aber Theorie und Wissen vermögen nicht zu genügen – wenigstens dann nicht, wenn ein Subjekt dabei ist, betont: ein Subjekt, nicht das (das aus der Theorie) – aber z.B. ich. Dann wird immer eine Störung sein, die des öfteren vielleicht in diesem Wissen auftaucht, sich in ihm einnistet, nicht gleich als ‘Fehler’ zu bezeichnen, als Irritation vielleicht, als eine Unstimmigkeit, die die Gedanken abschweifen lässt oder hinausweist aus dem gerade Gesagten (vielleicht hindeutet zu etwas nicht Gesagtem oder Verschwiegenem oder schlicht zu etwas Unbekanntem?) – ein Symptom wohl.
Auch dazu fällt mir eine Geschichte ein: In kleinerem Kreis fühlte ich mich – wieder einmal – bemüssigt zu sagen, dass m.E. Psychoanalyse und Theorie der Psychoanalyse nicht ein und dasselbe seien, worauf mir geantwortet wurde: Es gibt keine Differenz zwischen Praxis und Theorie – sagt Lacan! Nicht nur weil ich weiss, dass Lacan schon seit geraumer Zeit nichts mehr sagt, liess mich schweigen und staunen ob dieser Entgegnung – eher ob dieser unverhüllten Dogmatik.
Aufklärung
Dennoch wagte ich in einer Vorbereitungszusammenkunft für den heutigen Kongress, nochmals denselben Einwand und erläuterte das mit einem Beispiel, – ich wiederhole es hier, weil ich damals beim Erzählen was gelernt zu haben glaube: Sexualität und Theorie der Sexualität sind doch auch nicht dasselbe. In meiner Generation gab es eine Aufklärungsbroschüre. Und die für die Knaben trug den Titel »Du sollst es wissen«, die für die Mädchen »Du musst es wissen«, worin sich bereits die Geschlechtsdifferenz widerspiegelt – damals haben wir so gelernt – wie’s bei den Bienchen ist! In jenem Moment des Erzählens ist mir plötzlich aufgefallen, und erst damals, dass ich, wie vermutlich viele andere, tatsächlich gemeint habe, dass es, wie’s geschildert und oft kolportiert, so bei den Bienchen sei, wider besseres Wissen, denn: so pflanzen sich mitnichten die Bienen fort, sondern die Blümchen! Dieser Irrtum ist es doch, der auf das aus der Theorie Ausgeschlossene verweist. Und dieses Ausgeschlossene ist doch das Subjekt (und wenn auch bloss ich dies bin, der’s nicht verstanden hat, und der wenigstens in eben jenem Moment aufgetaucht, als die Verkennung als solche sich gezeigt hat).
Das überschüssige Subjekt
Das Subjekt ist vom Wissen nicht zu fassen – es bildet einen Überschuss – wie das kleine a in den Diskursen, wird mir vielleicht entgegnet? Freud liegt mir jedoch im Moment näher, wenn er über die Gleichung mit den zwei Unbekannten klagt: die sind auch nie zu fassen, entwischen immer wieder, bleiben überschüssig, taugen nicht zu Operationen, lassen sich nicht wissen – beruhigen nicht, sondern schaffen Ungereimtheiten, Unruhe – eine ist einfach immer zuviel. Vielleicht sollen Wissen und Verstehen (auch) den Zweck haben, Antworten zu geben und zu beruhigen, damit zu verhindern, dass Unruhe zu viel Energie abfliessen lässt, wie bei FREUDs Pantoffeltierchen: einerseits darauf bedacht, ein homöostatisches Gleichgewicht aufrecht zu erhalten und sich zu teilen, und andrerseits dem Ziel zustreben, den anorganischen Zustand zu erlangen. Könnte nicht dieselbe Tendenz auch bei den Pantoffeltierchen hinter der Couch zu finden sein?
Zumindest erlaube ich dies zu vermuten, vor allem wenn ich mich selber ertappe dabei, dann aber auch wenn die Freudschen Unbekannten ersetzt sind von Begriffen, Buchstaben, Zeichen – die hinwiederum so fast unmerklich zu Operanden mutieren und operabel sind und die sie steuern werden zu Operateuren. Dabei waren’s einst doch Unbekannte (ja, die heissen Un-be-kannte!), die eliminiert worden sind – sie sind jetzt endlich fassbar. Vielleicht, es sei betont, ist’s bloss ein eigenes Problem, bei dem ich mich immer wieder ertappe und gar wohl fühle, beruhigt, bloss zuzuschreiben meiner ›Herkunft‹ von den (exakten) Naturwissenschaften und meiner Affinität zu Computern. Vielleicht sollte ich mir zur Gemahnung an meine Gefährdetheit die Urkunde aufhängen, die mich darauf hinweist, dass ich ein Doktor rer. nat. bin – d.h. kein Psychoanalytiker.
Hysterie
Die Hysterie, sie führt einen Kampf gegen den Katalog des Wissens. Die Hysterie (was die Neurose schlechthin ist, das sprechende Subjekt) hat die Wissenden angetrieben, zu forschen, Apparate und Stoffe und Methoden zu entwickeln – sie hat irritiert und hat Unruhe gestiftet und ist immer wieder entwischt – und hatte als solche sich einst einen Platz bei FREUD erobert, und auch bei einigen seiner Nachfolger. Doch wie wir in den Wissenskatalogen der Medizin sehen, den Diagnosekatalogen, haben sich die Hüter dieser Kataloge ihres Gegners dadurch entledigt, als sie ihn schlicht und einfach abgeschafft haben, als inexistent erklärt. Aufgelistet sind nun objektiv feststellbare und abhakbare Befunde, den Ausschlägen der Messgeräte gleichgestellt (oder diese selbst) – hysterische Symptome gibt es keine mehr, die Sprache ist eliminiert, zumindest muss nicht mehr zugehört werden – nicht mal mehr jenem hypochondrischen Mann, der seit Jahren Dauerpatient des Urologen ist, die gesamte Hightechapparatebatterie und Medikamentenpalette durchlaufen hat, wobei und obwohl noch nie ein somatisches Leiden festgestellt und sichtbar geworden ist. Aber eben sind Urologe und Patient nun übereingekommen, dass man das genau beobachten müsse.
Depression
Und heutzutage wundert es auch nicht mehr, wenn ein Klient d.h. einer der es werden möcht, zum Erstgespräch kommt und gleich mitteilt, er habe eine Depression (oder sonst eine ›anerkannte‹ und messbare Störung) und er hätte sich im Internet ›klug gemacht‹ und dort festgestellt, was alles aus dem Beschwerdenkatalog zutreffe – und damit kann dann offenbar mit einer einfachen Rechenaufgabe die Diagnose gestellt werden (»wenn 7 Kriterien aus 10 möglichen zutreffen, ist es ...«). Mitgeliefert werden auch noch die Mittel, diese Störung oder Krankheit loszuwerden. Onlinekataloge, wie im Versandhandel, wo am heimischen PC mittels des sog. Konfigurators das passende Modell zusammengestellt werden kann.
Aber – die Frage, so altmodisch sie sein mag, sei erlaubt: wär nicht die Hysterie vorzüglich geeignet, sich ab und an oder des öfteren, sich das Gewand einer Depression (oder sonst einer anerkannten Störung) überzuziehen? (Wie jener Volksstamm, der sich einen anderen Namen zugelegt, um so von einem bös gesinnten Geist nicht (wieder)erkannt zu werden?)
Wie aber kann gehört werden (gegen alle Widerstände, die sich dem Hören entgegensetzen – am Beispiel des Korrekturlesens, bei dem die falsch geschriebenen Wörter der Erwartung gemäss richtig gelesen werden...)? Die Frage ist doch die, wie es möglich sein könnt, dass in einem Experiment etwas auftauchen kann , das nicht schon in der Versuchsanordnung angelegt ist? [Angelegt ist immer das schon verstandene und das Erwartete – wie am Beispiel des Lesens – Korrekturlesens...] Für uns: wie kann etwas gehört werden, das ungewohnt, fremd ist, nicht schon gewusst, wie kann etwas einbrechen und überraschen, was in der Versuchsanordnung Psychoanalyse nicht vorgesehen ist? (Das ist doch die Frage, die auch ein Beispiel einer Frage ist, die nicht ein für allemal beantwortet werden kann, die sich, in dem sie sich stellt, ihre Wirkung entfalten soll.)
in der Analyse
Häufig, wenn von der Psychoanalyse geredet wird, stellt sich jeweils nach einiger Zeit Verwirrung ein, bei mir, und ich weiss dann nicht mehr, von wem nun gesprochen wird, oder für wen oder aus wessen Sicht, ob aus der des Analysanten oder aus der des Analytikers (oder doch von ›der Analyse‹?) Dabei sind’s doch immer Verschiedene, von denen gesprochen wird, zwei – zumindest! So wie auch die in einer psychoanalytischen Praxis zugewiesenen Plätze verschieden sind, ebenso wie die darauf eingenommenen Körperhaltungen verschieden sind, als auch das was die beiden zu Gesicht bekommen, oder eben nicht zu Gesicht bekommen, einfach verschieden – letztlich vielleicht gar auf die Verschiedenheit der Geschlechter verweisend.
Es gilt doch diese Verschiedenheiten (der Personen, der Plätze, des Wissens und der Hysterie z.B.) zu behalten, so unbequem sie auch sein mögen, so unbequem auch, eine Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten gegenüben den sich einschleichenden Antworten und dem Verstehen, die jeden Denkplatz zu besetzen drohen, keine Leerstelle dulden, d.h. keinen Platz für Fremdes offen lassen. Doch wie?
der Tod des Analytikers
Vor vielen Jahren hat Lucien Israël zum »Platz des Analytikers« gesprochen. Dabei meinte er, dass der Analytiker bereit sein müsse, zu sterben. Gleich mehrere Male wurde ich darauf angesprochen – und jedesmal wurde mit dumpfer Stimme beigefügt, darüber hätte dann niemand mehr sich getraut zu diskutieren, angesichts des damals todkranken Referenten. Nun – zu jener Zeit und darüber hinaus, wenn Israël über den Tod geredet hat, und das tat er oft, war er immer sehr lebendig. Auch wohl weil er nie und nimmer den ›Tod des Analytikers‹ als den physischen Tod desjenigen verstanden hat, der den Platz des Analytikers einnimmt.
– Der Tod des Analytikers ist dann, wenn – z.B. bei einer Deutung – ein Symptom sich auflöst und der Analytiker herrausfällt aus der Teilhabe am Geschehen in der Analyse – und er ist v.a. dann, wenn er schlussendlich endgültig fallen gelassen und seinem Unbehagen überlassen wird.
– Der (physische) Tod, auch desjenigen, der den Platz des Analytikers einnimmt, stellt sich meist so unaushaltbar und elendiglich beiläufig ein – er kann nicht mal so gesagt werden –, dass er höchstens die Lücke im Denken oder dessen Grenze aufscheinen lässt – er ist nicht wissbar, nicht verstehbar – oder nach FREUD: er lässt den psychischen Apparat stumm.
Dies ›zuzulassen‹ oder zu erdulden ist die Abstinenz – Sie wissen: die Analyse findet in der Abstinenz statt – aber nicht eine, die der Analytiker seinen Klienten auferlegt, sondern die ihm auferlegt ist, nämlich die: nicht gemeint sein wollen, oder eben anders als immer.