Wer sich an einer Zeitschrift für Psychoanalyse beteiligt, muss sich die Frage nach dem »Warum‹ dieses Tuns gefallen lassen, nach einem möglichen Zusammenhang zwischen dieser Beteiligung / dem Geschriebenen und der Ausübung – der sog. ›Klinik‹ – der Psychoanalyse, folglich seiner Tätigkeit als Psychoanalytiker. Bei der Lektüre psychoanalytischer Abhandlungen entsteht leicht und oftmals der Eindruck, zwischen Klinik und Theorie bestehe ein Kontinuum, ja oft sogar eine Priorität der Theorie, verstanden als ›alles schon gewusst‹, an dem sich die Praxis zu messen habe. Diese hätte sich demzufolge zu bemühen, der Theorie möglichst schon entsprochen zu haben, andernfalls sie die ›Wahrheit‹ verfehlt hätte, sich der Abweichung denunzierte.
Als ich einmal eine Supervision bei Lucien Israël damit begann »ich glaub, ich hab da etwas falsch gemacht«, entgegnete er: »Das impliziert aber, dass man in einer Analyse etwas richtig machen könnte«. Und da Israël bezüglich Analysen nicht Trost zu spenden pflegte, verstand ich das als Kritik: richtig und falsch sind keine analytischen Kriterien.
Ob eine Intervention ›richtig‹ oder ›falsch‹ war, stellt sich bestenfalls nachträglich heraus – meist aber bleibt das zu wissen dem Analytiker eh vorenthalten. Dieses Mehr-Wissen wird sich erst nachträglich einstellen und es wird sich so gebärden, als ob es immer schon dagewesen wäre. Zwischen dem was in einer Analyse geschieht und dem daraus Vermittelten besteht immer eine Differenz – die zwischen Deutung und Erklärung. Sie wird oft überdeckt, geglättet, kontaminiert von Theorie, die eingeflossen sein wird. Psychoanalyse hat aber aufgehört zu sein, sobald das Wissen vorausgesetzt ist.
Warum denn eine Zeitschrift für Psychoanalyse? Warum – v.a. wenn wir von der Praxis ausgehen?
Ein Analysant, 40-jährig, Jurist, ist eher unglücklich in seinem Beruf, obwohl er darin erfolgreich zu sein scheint. Friedrich Hölderlin, Robert Walser, Gottfried Keller sagen ihm mehr zu und stehen nur als Beispiele für seine Hingabe zur Literatur und für sein eigenes Schreiben. In einer Sitzung erzählt er, dass er einen Handwerker für eine Maurerarbeit habe beiziehen müssen. Er hätte diesen Mann beneidet für seine Tätigkeit und sein Können, sei daneben gestanden und habe zugeschaut, wie er auch sonst im Leben oft wie daneben stehe, untüchtig, nicht fähig, daran eigentlich teilzunehmen. Der Maurer habe kaum geredet, sei sprachbehindert – er selber beschäftige sich so sehr mit Sprache, sei selber aber unfähig, das praktische Leben zu bewältigen, usw. Der Analytiker: »Sie sind sprachbehindert« (i.S.: von der Sprache behindert) Der Analysant legt eine Differenz offen zwischen einem (vermeintlich) Ganzen, Ungeteilten, das (immer) woanders ist – und an dem ein anderer scheinbar teilnimmt – und dem Mangelhaften, das die Erfüllung nicht zu erreichen vermag. Die Umkehrung durch die Intervention setzt die Sprache – das Mangelhafte – als Ursache für diese Behinderung. Sie ist es, die das Subjekt von der Teilnahme am ›ganzen‹ Leben trennt, die verhindert, dass die Wahrheit des Lebens gewusst und gedacht und gesagt werden kann, ganz im Sinne Lacans ‹mi-dire› der Wahrheit (dass man die Wahrheit nur halb-sagen könne). Auch Lacan aber spendet keinen Trost i.S. von ›immerhin kann die Wahrheit ja zur Hälfte / zum Teil gesagt werden‹ – das Verfehlen durch die Sprache ist es, das eine Wahrheit erst konstituiert. Dieses Verfehlen allein ist der Grund dafür, dass es die Wahrheit gibt, aber genauso auch dafür, dass sie immer abwesend sein wird und nie erreicht werden kann. Etwas salopp ausgedrückt: die Wahrheit ist in den Lücken oder fällt zwischen die Lücken der Sprache. Doch wo sind sie, diese Lücken? Die Frage müsste besser lauten: wo wären sie oder wo waren sie? Denn sie sind es, die Anlass des Sprechens als Symptom sind und die immer überdeckt sind mit Worten, gefüllt mit Imaginärem, kurz: mit Täuschungen, die immer schon dort sind, gewesen sein werden, wo letztlich nichts gefunden worden wäre. Ein (gewagtes?) Beispiel – ›Auschwitz‹: Ein Begriff des Schreckens, häufig gehört, der versucht, den Holocaust zu bezeichnen. Gleichwohl bezeichnet er einen Ort, nicht so ohne weiteres auch Theresienstadt, Dachau, Treblinka, nicht jenes Wäldchen in Polen, nicht jenen Steinbruch in Griechenland und er bezeichnet schon gar nicht mehr, was jenem einzelnen widerfahren ist und was schlicht nicht zu bezeichnen ist. Und darum verfehlt ›Auschwitz‹ – ist nicht einfach ein Ort, kann überall sein, ist nicht einfach Geschichte, ist gegenwärtig, und gaukelt abscheulich vor, etwas denken, gar verstehen zu können, was schlicht undenkbar ist.(1) Unter vielen haben Levi, Kertész, Semprun darüber geschrieben. Der eine ist darob vom Schrecken eingeholt worden, der andere hat sich verweigert, ihn zu bezeichnen (und darum etwas davon vermittelt?), während Semprun »25 Jahre hat warten müssen« um davon schreiben zu können. Bis (buchstäblich) ›Gras darüber gewachsen war‹(!?) – was aber bedeutet: bis Sprache darüber gewachsen war, d.h. bis das Symptom sich verfestigt hatte. Und trotzdem geht es nicht anders, denn ohne Sprache ist gar nichts.
Der Analysant, von dem oben berichtet ist, ereifert sich in der darauffolgenden Sitzung über einen Werbespruch einer Firma, die Kücheneinrichtungen verkaufen will: »wir machen sie glücklich«. Er klagt über die gegenwärtige Zeit der Werbung, die der »Mc Donalds-Kultur«, und er stellt ihr Erinnerungen aus seiner Kindheit gegenüber, seine Streifzüge durch die (unbeschädigtere) Natur, den weichen Teer, der zwischen seinen Zehen durchgequollen sei,usw., kurz: Erinnerungen an eine täuschungsfreie(re) Zeit, und er lobt wieder seine ehrlichen Dichter.
Er täuscht sich dabei vermutlich in zweifacher Hinsicht: Ebenso wie die (plumpe) Werbung versucht, für unerfüllbare Wünsche ›Lückenbüsser‹ anzupreisen, sind auch Erinnerungen von eingeflossenem Imaginären überdeckt und entstellt. Nachträglichkeit. Und er übersieht gleichzeitig die Lücken, die von einer literarischen Sprechweise miteingeschlossen werden: dass nämlich Metaphern und Metonymien nicht einfach bezeichnen und festschreiben, sondern offen lassen, was von einer Bezeichnung gefasst und ›getötet‹ würde, Löcher, die vom Leser beim Lesen sogleich selber von Vorstellungen gefüllt sein worden sind, mehr meinen, als sie bezeichnen und immer mehr auch, als dazu gedacht werden kann.(2) Nichts kann nicht sein – es gibt kein Reden und kein Denken ohne Imaginäres. Wen zu Hilfe nehmen? Derrida?(3) Seine Forderung und seine Versuche, dass man ›das Unmögliche denken‹ müsse, kann ich nur verstehen als ›das unmögliche Denken‹, dort, wo das Denken scheitert und bricht, dort, wo immer gleichzeitig Vorstellungen schon eingeflossen sind. Die Psychoanalytiker? Die Erläuterungen ihres Verstehens eines ›Falles‹, die mitunter anmuten wie Bauklotzburgen in einem Kinderzimmer und die sich immer höher auftürmen – starr und instabil. Die Theorie selber, die für alles mit einem Begriff aufwartet, ist bestens geeignet, Denklücken zu schliessen: ›klein a‹, ›der Phallus‹, ›die Null-Stelle‹, Begriffe, mit denen Operationen durchgeführt werden, gar das ›Ding‹, das in Lacans Theorieentwicklung hängengeblieben ist und nun Null-Operationen ermöglicht (wär's eine Division in einem Computer, würde er abstürzen). So vermag Freuds ›Hexe Metapsychologie‹ zu täuschen, wer sich ihr zu unvorsichtig und v.a. zu früh übergibt.
Eine Analysantin, die sich seit geraumer Zeit um eine ›Geschlechtsidentität‹ bemüht und in Rivalitätsbeziehungen mit anderen Frauen steht, fantasiert sich einen andern Namen. Sie möchte ›Ella‹ heissen. Sie weiss nicht warum – der Name gefalle ihr gar nicht, und eine Frau dieses Namens kenne sie nicht, sie habe nur gehört, dass es diesen Namen gebe. Sie ist schon länger in Analyse und bietet gleich selber eine Interpretation an: »elle a« / »elle l'a«. Das weiss sie – sie scheint Lacan gelesen zu haben (la femme ... / den Phallus haben, usw.). Überrascht wird sie erst vom Hinweis, dass dieser Name auch rückwärts gelesen werden kann. [alle, auch aller (fr.)].
Obwohl ihre Interpretation vielleicht zutreffen mag, dient dieses Theorie-Wissen – als Erklärung – dem Widerstand, verschliesst, und bewirkt gar nichts. Das Wissen ist zum Symptom geworden, das erst auseinanderbrechen kann durch die Überraschung, ausgelöst durch die Deutung.
Im Moment, wo das ›Grauen‹ das Subjekt trifft – nein, nicht das ›Grauen‹: wo das Subjekt – gedacht – auseinanderfällt, in jenem Moment, wo sich beim Witz das Lachen entlädt, das aber bereits schon die Ankunft der neuen ›Füllung‹, des neuen Verschliessens ankündigt, in jenem bewusst-losen Moment, ist nichts. Wie davon schreiben?
Und warum denn eine Zeitschrift für Psychoanalyse? Wir haben mehreren Herausgebern von Zeitschriften diese Frage gestellt. Eine Antwort war – ziemlich rüde – »wir müssen uns doch nicht rechtfertigen: wir legen Zeugnis ab«. Aber wovon denn? Wir legen bestenfalls Zeugnis ab von unseren Bemühungen, zu verstehen, aber auch von unserem Scheitern. Jedenfalls wünschen wir die Leser als Zeugen unserer Erzeugnisse. Das heisst nicht, gegen die Theorie zu sein, im Gegenteil. Das heisst nur, darob die Praxis nicht zu vergessen – und trotzdem eine Zeitschrift zu machen.
Ein Analysant träumte von einem Vortrag, den er geschrieben hatte und sah den Text vor sich. Darin war eine Zeile verrückt, oder doppelt beschrieben, oder ausgelassen. Wiederum darin war mit Tip-Ex eine Stelle überdeckt, und darauf war wieder etwas getippt. Er möchte wissen, was darunter stand. Es gelang ihm, die Schrift abzulösen, dann auch noch das Tip-Ex. Darunter stand . Damit war die Analyse beendet.
1 Vermutlich irrt Adorno in seiner Forderung, duch Erziehung ein neues Auschwitz zu verhindern, denn sie impliziert den Glauben (und den Wunsch), es dereinst überwinden zu können und überwunden zu haben, gleichsam auch, verstanden zu haben. 2 Zu hinterfragen wäre auch, was es mit den ›Holophrasen‹ (Wortzusammenzüge, die oftmals bei psychosomatisch Kranken zu hören sind) auf sich hat, ob diese Symptome – auch und gerade wenn sie vielleicht Sekundärsymptome sein mögen – nicht auf ›Strukturlücken‹ schliesssen lassen, die derart geschlossen werden müssen. 3 Jacques Derrinda, Wie nicht sprechen, Verneinungen, Hg. Peter Engelmann, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Wien: Passagen 1989. – Falschgeld, Zeit geben I, übers. v. Andreas Knop und Michael Wetzel, München: Wilhelm Fink 1993.